Lektion Nr. 9 [Erlebes Lesen]

Endlich ist es soweit! Du stürmst in die nächste Buchhandlung, holst dir die letzte Neuerscheinung deines Lieblingsautors, auf die du so lange gewartet hast und willst am liebsten schnell nach Hause, um das erste Kapitel lesen zu können. Aber du hast deine Selbstbeherrschung überschätzt, denn kaum sitzt du im Bus, bist du schon im Buch vertieft. Der Ungeduld wegen nimmst du hin, dass dich eine alte Frau stört, die dich fragt, ob sie sich neben sich sitzen kann, genauso wie das schreiende Kind zwei Sitzreihen vor dir. Sobald deine Augen wieder über die Zeilen fliegen, kommt auch noch der Fahrscheinkontrolleur... Du fragst dich: "Was habe ich eigentlich die ganze Zeit gelesen? Sonst konnte mich dieser Autor aber immer viel besser erreichen. Da hatte er mich schon mit den ersten Seiten im Bann!" Wer fühlt sich angesprochen?

Heute beschäftige ich mich mit dem Thema des Anlesens. Manch einer denkt jetzt vielleicht: Was ist daran so schwierig? Man nehme das Buch in die Hand, schlage es auf und fange nur an zu lesen! 
Tja, wenn das mal so einfach wäre...

Ich möchte keinesfalls verbreiten, dass es nicht möglich ist, ein Buch überall und zu jeder Zeit zu beginnen, ohne sich irgendwelche weiteren Gedanken darüber zu machen. Aber mir geht es nicht nur darum zu lesen, sondern ich erhebe den Anspruch, die Zeit, die ich in Bücher investiere, möglichst intensiv und berauschend zu gestalten. Manch einer kennt dieses Gefühl vielleicht, aber darum soll es in einer anderen Lektion gehen...

Soll man in Bussen keine Bücher beginnen oder was?

Das sollte meine Einleitung nicht aussagen... Aber ich denke, dass wir uns einig sind, wenn wir sagen, dass es ziemlich stressig wirkt, wie du in meiner Einleitung das Buch beginnst. Wenn man das so liest, werde ich nicht gerade neidisch auf dich als Lesenden.
Denn auch bei Büchern zählt der erste Eindruck! Wenn du ein Buch, das mit einem Autounfall beginnt, in einem Buch anliest, kann das möglicherweise, je nach deiner Art, einen positiven Einstieg für dich bedeuten. Denn bei allem Makaber, was könnte spannender sein?
Doch wer gestört wird, an dieser Stelle verweise ich nochmal auf die erste Lektion (Lesen und Lesen lassen), der kann es nur als störend empfinden.

Die Bedeutung des ersten Eindrucks

So viel du auch schon über ein Buch gehört hast, wenn du es dann in den Händen hältst, seid ihr erstmal Fremde und müsst euch kennenlernen, euch annähern. Solange du Bücher nicht von hinten nach vorne liest, sollte diese Begegnung auf den ersten Seiten stattfinden. Möglicherweise ist dir der Schreibstil des Autors noch nicht bekannt, der Klappentext (auch ein spannendes Thema für später...) gibt noch nicht so viel Aufschluss oder es ist ein Folgeband einer Reihe, deren letzten Teil du vor Jahren gelesen hast. In all diesen Fällen stehen auf den ersten Seiten wichtige Informationen für dich.
Die ersten Seiten sind quasi die Kindheit deines Lesevorgangs, sie prägt dein gesamtes Leseerlebnis.

Du entscheidest meistens nach den ersten Seiten, ob du ein Buch weiterlesen willst oder ob du es als verschwendete Zeit ansiehst. Du beurteilst hier schon den Schreibstil, auch wenn du deine Beurteilung noch mehrmals revidieren kannst. 

Ich könnte mir vorstellen, dass Du aus dem Beispiel durch die unruhige Situation in der Kennlernphase beeinflusst wurde und das Buch möglicherweise zur Seite legt. Wenn du stattdessen zuhause auf dem gemütlichen Sofa gesessen hättest, muss das Urteil auch nicht unbedingt anders gelautet haben. Aber...

Meine Erfahrung

Wenn ich ein neues Buch beginne, nehme ich mir immer gerne Zeit und Ruhe. Die ersten Seiten lese ich ganz langsam, um jede Bewegung zwischen den Zeilen einzufangen. Ich lese auch stets das Vorwort, die Widmung und die Autorenbeschreibung, denn all das garantiert ein umfassendes erstes Bild. Manchmal stehen auch auf dem Haupttitelblatt interessante Informationen, z.B. der Originaltitel oder das Erscheinungsdatum der ersten Ausgabe. Wenn sich ein Buch als viel älter als erwartet entpuppt, fängt man schon ehrfürchtiger mit dem Lesen an. Der Originaltitel könnte ganz anders lauten und man fragt sich, was sich hinter den seltsam gewählten Worten verbirgt- ein zusätzlicher Anreiz.

Schlechte Erfahrungen habe ich dagegen gemacht, wenn ich ein Buch zwischen Tür und Angel angelesen habe. Meist blieb die Beziehung zu der Geschichte (das gilt auch für Hörbücher) im gesamten Verlauf eher stiefmütterlich. Das ist ja auch einleuchtend, da ich ja bereits zu Anfang nicht alles mitbekommen habe.

Wer jetzt vorschlägt, einfach wieder zum Anfang zurückzublättern und es erneut zu denkt auf versuchen, der denkt auf jeden Fall praktisch. Das ist genau das, was ich in einer solchen Situation tun würde. Allerdings ist es nicht dasselbe, da ich meinen ersten Eindruck ja bereits hatte. Ich erlebe die Geschichte nicht mehr zu ersten Mal und kann das gemalte Bild nur noch ergänzen, aber nichts mehr ausradieren.
Der Stress, den ich beim ersten Lesen nebenbei hatte, die ungewollten Unterbrechungen, all das wird mir wieder vor Augen sein, wenn ich es erneut versuche. Wenn ich ein abgebrochenes Buch erneut in die Hand nehme, ist das erste Bild, das ich vor Augen habe, der Ort, an dem ich mich beim ersten Lesen befunden habe.

Ziel dieser Lektion soll keinesfalls sein, dass man keine Bücher mehr abbricht und alles von den ersten Seiten an ganz toll findet. Aber man sollte zumindest jedem Buch die gleiche Chance geben. Manchmal ist vielleicht noch nicht die Zeit für ein Buch gekommen und man legt es nach ein paar Seiten wieder weg. Das ist jedem selbst überlassen und oftmals eine kluge Entscheidung. Nur weil man den Anfang bereits einmal gelesen hat, hat man es sich nicht gleich auf alle Zeiten mit diesem Buch verscherzt, das will ich gar nicht sagen, das kann man auch gar nicht sagen.

Aber nichts geh über eine bewusste Erfahrung des ersten Eindrucks hinaus. Nehmt euch Zeit und ihr werdet merken, dass ihr euch richtig in die Geschichte hineinfallen lassen könnt. Seid offen und macht euch frei von allem, was ihr mal über das Buch gehört habt (aber das ist eine andere Geschichte) und versucht, nach den ersten 1-3 Kapiteln eine Reflexionspause zu machen.

Nur wer von Angang an mit den Gedanken intensiv beim Buch ist, kann auch direkt mit auf den Zug der Geschichte aufspringen. Das erleichtert das weitere Leseerlebnis, weil man sich später nicht wundern muss, warum der Schreibstil auf einmal so komisch wirkt. Sowas passiert, wenn du zwischendurch mal einen aufmerksamen Zustand hast und nicht von Anfang an alles bewusst wahrnimmst.

Hört sich anstrengend an?

Genau das soll es eben so nicht sein! Ich habe den Vorgang des Anlesens jetzt unter dem Mikroskop betrachtet. Grob betrachtet geht es nur darum, diesen schönen Moment, auf den man sich so lange gewöhnt hat, nicht unbewusst zu vergeuden, sondern möglichst noch auszudehnen. Nichts ist schöner, als ein neues Buch innig und in aller Ruhe kennen und lieben zu lernen.

Und für alle Zweifler: Am Ende des Tages sind Anfang und Ende des Buches auch nicht wichtiger als der gesamte Verlauf, sowie im Leben auch...





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