Lektion Nr.5 [Erlebtes Lesen]



Wer kennt nicht dieses Vorurteil: Wahre Leseratten haben Scheuklappen vor den Augen und bekommen nicht mit, was um sie herum geschieht.

Es mag solche Leute geben, die so in ihr Buch vertieft sind, dass man vor ihrer Nase über sie reden kann und sie kriegen es nicht mit- aber das gilt nicht für die Mehrheit. Vielleicht schaffe ich, in dieser Lektion dieses Vorurteil aufzuräumen.

Man ist nicht selten dazu verleitet, anzunehmen, dass gerade diejenigen, die nur Augen und Ohren für eine Geschichte haben, erlebnisreich lesen müssten.
Meiner Meinung nach verhält es jedoch genau andersrum. Ich gehe sogar so weit, dass man sich gar nicht zu 100% der Atmosphäre um einen herum entziehen kann. Jedenfalls sollte man das nicht, wenn man ein Buch in Erinnerung behalten und ein ganz persönliches Leseerlebnis haben möchte.

Wenn ich mich jetzt an ein gelesenes Buch zurückdenke, dann weiß ich auch meistens noch, wo ich es gelesen habe. Unbewusst verbinde ich es zum Beispiel mit einem bestimmten Strand oder einem Hotelzimmer. Ich kann mich deswegen auch besser an die Handlung erinnern.
Das kann man sich ungefähr so vorstellen, wie man sich auch besser an wichtige Dinge im Alltag zurückerinnern kann, in dem man sich den Ort wieder vorstellt, an dem man sie zum ersten oder letzten Mal gesehen, gehört oder gedacht hat.


Es gibt aber noch mehr, was die Umgebung einem für ein glückliches Leseerlebnis bereithält: Schon während des Lesens wird die eigene Vorstellung der Ereignisse durch die Realität geformt. 
Das heißt natürlich nicht, das vorgestellte Räume ein Abbild des Raumes sind, in dem du gerade sitzt und ließt. Aber wenn du zum Beispiel in einem hellen Raum bist, stellst du dir die Welt vielleicht auch heller vor, es sei denn es wird ausdrücklich die Abwesenheit von Licht betont. Bist du gerade im Urlaub, neigst du vielleicht dazu, auch das Geschehen einer Geschichte idyllischer und freier auszumalen.


Wichtig sind auch Hintergrundgeräusche. Meeresrauschen und Vogelgezwitscher können deine Wahrnehmung der Grundstimmung im Buch beeinflussen.

Auch deine eigenen Gefühle beeinflussen dein Leseerlebnis. Hast du gute Laune und gerade etwas positives erlebt, wirst du wahrscheinlich auch dem Buch fröhlichere Gedanken entgegenbringen und deine Stimmung auf die der Figuren im Buch projizieren. Andererseits kann es aber auch sein, dass Trauergefühle tragische Handlungen im Buch weniger schlimm erscheinen lassen. 

Du fragst dich vielleicht, was diese Lektion bezwecken soll, wenn man nicht steuern kann, welche Eindrücke das Lesen beeinflussen und sowieso jeder unbewusst beeinflusst wird.
Ganz einfach: Du kannst die Beeinflussung intensivieren und das kannst du steuern. Wenn du ein Sommerbuch lesen möchtest, kannst du dir die Realität auf min. zwei Wege zunutze machen. Du kannst es selbst in sommerlicher Atmosphäre draußen an einem Badesee lesen und alles im Buch kommt dir noch wirklicher vor oder du liest es an einem grauen Wintertag, um deine Stimmung aufzuhellen. Das waren jetzt nur zwei Beispiele.

Generell kann man die Umgebung bewusster einfließen lassen, wenn man, wie in Lektion 3 bereits behandelt, Pausen macht und vom Buch aufblickt, sich bewusst wird, was um einen herum passiert.
Das heißt nicht, dass man sich ablenken lässt! 

Vorsicht also: Lass dich nicht ablenken, wenn du gerade ließt, andernfalls wirst du die Passage nochmal lesen müssen.

Ein Buch, das man mehrmals in mehrmaligen Umgebungen gelesen hat, wird man jedes Mal anders wahrgenommen haben, war somit nie das gleiche. Deswegen ist es nicht egal, wo, was, wie und wann du liest. Wenn du dir dieser Umstände bewusster wirst und über längere Zeiträume beobachtest, wirst du sie auch immer besser steuern können. Natürlich nur, wenn du das willst.

Du kannst dich auch von den Effekten der Realität überraschen lassen und es einfach so nehmen wie es ist. Was du jedoch nicht vergessen solltest, ist, dass die Welt, die du dir beim Lesen vorstellst, auch wenn du die Realität auszublenden versuchst, auf jeden Fall zu 100% von der vermeintlichen geprägt ist. Du kannst ihr auch mit noch so viel Fantasie nicht entfliehen!

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